Die Sage vom Gablspitz
–GESCHICHTE–
Die Sage vom Gabelspitz
Man schrieb das Jahr 1595. Von uralters her gehörte das riesige Gebiet zwischen Naters und Schynegg der Küherfamilie Tschanz, zur Zeit der Handlung vertreten durch die Brüder Peter und Hans. Ihre Häuser standen in der tiefsten Lage der Mulde. Die Marche lag genau in der Mitte. Peter bewirtschaftete den östlichen Teil und Hans denjenigen gegen den Röthenbach. Bei Peter in Vordernaters fehlte die Person, die sonst die widerspenstigen Glieder einer Familie mit Geschick zusammenzuhalten weiss: die Mutter. Früh war sie von den Bergen ins Tal gestiegen, dorthin wo es keine Rückkehr mehr gibt. An ihre Stelle trat das einzige Kind, das Anneli Mit seinem frohen Gemüt wurde es den ihm gestellten grossen Aufgaben gerecht. Im Frühjahr 1595 zogen die Bruder Tschanz mit ihrem Vieh und Hab und Gut das Röthenbachtal hinauf ihrer Alp entgegen. Vorab schritt Christen, Peters Knecht. Es herrschte diesmal nicht die gleiche Fröhlichkeit wie in anderen Jahren. Hansens Meistersenn weilte nicht mehr unter den Lebenden und hinterliess eine tiefe Lücke. An seine Stelle dingte der Küher einen jungen Burschen namens Ruedi. Von diesem ging bald die Rede. «Es sig nüt mit ihm, er habe alle Kraft im Maul.» Gegen Christen, welcher unter den Natersknechten den ersten Rang innehielt, lehnte er sich sofort auf. Die «Usmachete» wurde von beiden gesucht — und gefunden. Zäh und langsam unterlag Ruedi Christens Kräften, und der Waffenstillstand war geschlossen. Peter merkte nicht, dass sich Ruedi trotz dieser Niederlage einbildete, Anneli samt gut so eins-zwei einsacken zu können. Als er sich Christen gegenüber verriet, sprang die Leidenschaft wie ein Funke auf diesen über. Wochenlang rivalisierten sie und überboten sich in der Arbeit. Ruedi stand Christen nichts mehr nach. — Auf den heissen Sommer folgte ein früher Herbst. Vor dem Abrüsten trafen sich die Sennen bei einer Herbstchilbi mit Schwinget und Tanz. Auch Peter und Anneli waren in Begleitung Christen von Naters herabgekommen. Auf dem Schwingplatz vor dem Bären traten auch Ruedi und Christe in den Ring. Kleiner und kleiner wurde die Zahl der «Ausschwinger» , und endlich rangen nur noch zwei um die Palme, wie jedermann zum Voraus ahnte: Christian und Ruedi. Die Spannung knisterte förmlich unter den Zuschauern, als sich Christen und Ruedi, kreideweiss, die Hände reichten. Es handelte sich hier nicht um das Preisschäfchen und nicht um die Schwingerehre, die vorher Christen gehört hatte und die ihm nun ein Neuling streitig machen wollte, es ging noch um etwas ganz anderes.
Hart, entschlossen und verzweifelt ging Christen ans Werk, gelenk und lebhaft fuhr der kleinere Ruedi ins Zeug, Der Kampf ging hin und her. Die Muskeln spannten sich und pfeifend ging ihr Atem. Plötzlich fliegt Ruedi durch die Luft, doch im Fall dreht er sich katzengleich aus, kommt auf die Vorderseite, und bevor es Christen gewahr wird, ist Ruedi bereits wieder auf den Knien, fasst Christians rechte Kniekehle, reisst dessen rechten Fuss an seiner Seite vorbei und fährt mit dem Schädel wuchtig in dessen Leib. Wie eine stürzende Tanne fällt Christen hin, Ruedi auf ihn und der Kampf ist aus. Schneeweiss steht Christen auf und verlässt den Platz, ohne dem Gegner nach Landesbrauch die Hand zu schütteln. — Am späten Abend haben aber zwei Knechte im dunklen Schachen miteinander gerungen. Nur das Dazwischentreten Heimkehrender mochte eine Bluttat zu verhindern. — Es ist vor der Alpabfahrt die letzte Arbeit, dass die Sennen den Dünger auf den Alpweiden verteilen. Christian und Ruedi begaben sich auf die hintere Höhe, welche den Dünger am meisten nötig hatte. An der Marche an dieser Höhe trafen sie sich und begannen ihre Arbeit. Sie fällt ihnen schwer. Plötzlich hebt Christen seine Gabel und stürzt in wahnsinnigem Hass auf seinen Nachbarn. Ruedi sieht die Gefahr und versucht, die niedersausende Gabel aufzuhalten. Die irregewordene Kraft des Grösseren schlägt die vorgehaltene Deckung durch und stösst ihm die Zacken in den Leib. Ruedi sinkt in die Knie und stürzt rücklings. Doch mit der letzten Kraft und dem letzten Willen bereits im Todeskampf sticht er seinerseits seine Gabel dem Feind in den Körper. An Ort und Stelle wurden die beiden Kämpfer begraben, ein Stein wurde über ihnen gesetzt mit der Jahreszahl und zwei gekreuzten Fünfzacken, und seither heisst der hintere Natersberg der “Gabelspitz”.